Alle wissen, was zu tun ist – aber nichts passiert
- Wolfgang Steigenberger
- 2. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Warum in Unternehmen trotz klarem Problembewusstsein keine Bewegung entsteht
In vielen Organisationen zeigt sich ein paradoxes Phänomen: Die Probleme sind bekannt, Lösungsansätze liegen vor, und eigentlich weiß jede:r, was dringend getan werden müsste. Und doch bleibt vieles liegen. Wichtige Entscheidungen werden vertagt, dringende Aufgaben verschleppt, notwendige Veränderungen auf später verschoben.
Dieser Beitrag beleuchtet die Ursachen dieses kollektiven Stillstands – von psychologischen Sicherheitsmängeln über strukturelle Verantwortungsdiffusion bis hin zu überlasteten Systemen und kulturellen Mustern des Aufschiebens. Gleichzeitig zeigt der Artikel Wege aus der Lähmung auf: wie durch Führung, Klarheit und konsequentes Handeln wieder Beweglichkeit in Organisationen entstehen kann.

1. Das stille Wissen – und die laute Untätigkeit
Fast jede:r hat es schon erlebt: In einem Meeting wird zum wiederholten Mal über ein bekanntes Problem gesprochen. Alle nicken, stimmen zu, dass „etwas getan werden muss“. Manchmal werden sogar To-dos notiert. Und trotzdem: Wochen später ist nichts geschehen. Das Thema ist immer noch offen, die Ursachen sind die gleichen – und die Stimmung wird zäher.
Es scheint wie ein kollektives Paradox: Alle wissen, was zu tun ist. Aber niemand TUT etwas. Diese Form von organisationaler Lähmung ist nicht nur frustrierend, sondern gefährlich. Denn sie frisst Ressourcen, schwächt Motivation und beschleunigt ungewollt das, was man eigentlich verhindern möchte: Relevanzverlust, Kundenabwanderung, Innovationsstau, Ineffizienz.
Doch warum ist das so? Warum handeln Organisationen oft nicht – obwohl das Bewusstsein vorhanden ist und Klarheit herrscht?
2. Die Ursachen des kollektiven Stillstands
2.1. Verantwortung wird verdünnt – „Das ist nicht mein Tisch“, "Das steht nicht in meiner Stellenbeschreibung"
In vielen Organisationen herrscht das Prinzip der Verantwortungsdiffusion: Es gibt keinen klaren „Owner“ für bestimmte Themen. Oder: Es gibt zu viele. Dann passiert das klassische „Ping-Pong“ – ein Problem wird zwischen Teams, Bereichen oder Hierarchien hin und her gespielt, ohne dass es jemals jemand wirklich aufnimmt. Jeder weiß davon, aber niemand fühlt sich zuständig.
Beispiel:Die Kundenbeschwerden häufen sich, weil ein Serviceprozess nicht sauber läuft. Vertrieb, Service und IT wissen davon – aber jede Abteilung sieht den Kern des Problems beim anderen. Am Ende bleibt alles, wie es ist.
2.2. Angst vor Konflikt oder Sichtbarkeit
Manche Probleme sind unbequem. Wer sie adressiert, muss mit Widerstand rechnen oder bringt sich selbst in die Schusslinie. In vielen Unternehmen ist psychologische Sicherheit nicht ausreichend gegeben – also die Möglichkeit, sich ohne Angst vor negativen Konsequenzen ehrlich zu äußern. Statt offen zu sagen, „wir haben hier ein massives Problem“, wird geschwiegen oder diplomatisch um den Kern herumgeredet. Das lähmt.
2.3. Überlastung und operative Dominanz
Ein weiterer Grund: Die Menschen sind schlicht überlastet. In vielen Organisationen ist das Tagesgeschäft so dominant, dass für grundlegende Problemlösungen keine Zeit bleibt. Die Energie wird in das „Feuerlöschen“ gesteckt, nicht in das „Brandverhindern“.
Dabei ist es nicht so, dass die Leute nicht wollen – sie können einfach nicht mehr. Der Tank ist leer. Und Veränderung kostet zusätzlich Energie, die niemand hat.
2.4. Fehlende Konsequenz – kein „Preis fürs Nicht-Handeln“
In manchen Kulturen wird das Nicht-Handeln nicht sanktioniert. Wer Aufgaben nicht erledigt, To-dos nicht nachgeht oder Entscheidungen aufschiebt, hat keine Konsequenzen zu fürchten. Im Gegenteil: Oft kommen genau jene durch, die Probleme aussitzen. Damit entsteht ein toxischer Effekt – warum sollte jemand Energie investieren, wenn andere für Passivität nicht nur nicht bestraft, sondern vielleicht sogar belohnt werden?
2.5. Zynismus und Resignation
In Organisationen, in denen über lange Zeit nichts passiert ist, obwohl man „es doch schon hundertmal gesagt hat“, entsteht Resignation. Die Mitarbeitenden ziehen sich innerlich zurück. Warum sollte man sich einbringen, wenn es doch keinen Unterschied macht? Dies ist der Nährboden für innere Kündigung, Dienst nach Vorschrift – und eine Organisation, die zwar beschäftigt, aber nicht wirksam ist.
3. Der Preis der Untätigkeit
Der Preis dieses Stillstands ist hoch – selbst wenn er nicht sofort sichtbar wird.
Motivationsverlust: Engagierte Mitarbeitende verlieren den Glauben an Wirkung.
Vertrauensverlust: Teams und Führungskräfte verlieren Vertrauen ineinander.
Qualitätsverlust: Fehler bleiben bestehen, Probleme wiederholen sich.
Kosten: Ineffiziente Prozesse kosten Geld, schlechte Entscheidungen kosten Chancen.
Reputationsverlust: Kund:innen merken, wenn Versprechen nicht gehalten werden.
Ein Unternehmen, das systematisch NICHT handelt, obwohl es wüsste, was zu tun ist, wird unweigerlich an Relevanz verlieren.
4. Warum „Wissen“ nicht reicht: Vom Denken ins Handeln
Eine zentrale Einsicht lautet: Klarheit erzeugt noch keine Bewegung.
Wissen allein führt nicht automatisch zu Handeln. Zwischen Erkenntnis und Umsetzung liegen oft tiefe Gräben – psychologische, strukturelle und kulturelle.
Deshalb braucht es Brücken. Und diese müssen bewusst gebaut werden. Auch wenn es bei den ersten Versuchen noch viel Überwindung, Anstrengung und Energie braucht - der Lerneffekt führt zu einer Vielzahl von positiven Effekten und irgendwann fällt es niemandem mehr auf, wie automatisiert Herausforderungen angegangen werden.
5. Wie Organisationen ins Handeln kommen – 7 Stellhebel
5.1. Radikale Klärung von Verantwortlichkeit
Es muss glasklar sein, wer wofür verantwortlich ist. Verantwortlichkeit darf nicht in Meetings enden, sondern muss in Taten übersetzt werden.
Dafür braucht es:
Rollen- und Themenverantwortung benennen
Klarheit über Entscheidungskompetenzen
Verbindliche Vereinbarungen statt loser Absichtserklärungen
Frage an Teams: Wer ist hier wirklich zuständig – und wie machen wir das sichtbar?
5.2. Psychologische Sicherheit stärken
Nur wenn Menschen sich sicher fühlen, sprechen sie die Dinge offen an. Führungskräfte spielen hier eine Schlüsselrolle. Sie müssen Räume schaffen, in denen Zweifel, Kritik und Probleme formuliert werden dürfen – ohne Angst vor Sanktionen.
Führung heißt: Konflikt zulassen – nicht vermeiden.
5.3. Führung durch Konsequenz
Wenn klar ist, was getan werden muss – dann muss auch klar sein, was passiert, wenn es nicht geschieht. Konsequenzen sind kein Zeichen von Härte, sondern von Ernsthaftigkeit. Denn: Eine Organisation ohne Konsequenzen ist wie ein Auto ohne Lenkung.
Wer regelmäßig To-dos ignoriert, Deadlines verstreichen lässt oder Entscheidungen vermeidet, braucht Rückmeldung. Sonst ist jede Zielsetzung wirkungslos.
Konsequenz führt zu Verbindlichkeit - Verbindlichkeit führt zu Vertrauen.
5.4. Raum schaffen für Transformation
Strukturell muss sichergestellt sein, dass Veränderung nicht „on top“ kommt, sondern einen legitimen Platz bekommt.
Dafür braucht es:
Zeitfenster außerhalb des Tagesgeschäfts
Entlastung von operativer Last für Change-Themen
Priorisierung durch das Top-Management
Wer Wandel will, muss Wandel ermöglichen.
5.5. Wirksamkeit erlebbar machen
Organisationen brauchen Quick Wins – sichtbare, spürbare Erfolge. Kleine Schritte, die zeigen: Es bewegt sich etwas. Diese Erfolge schaffen Vertrauen und Energie für größere Veränderungen.
Eine Kultur der kleinen, aber konsequenten Umsetzung ist oft wirksamer als ein „Big Bang“. Gönnen Sie sich zu diesem Thema das Buch "Atomic Habits" ("Die 1%-Methode") von James Clear.
5.6. Verantwortung sichtbar machen
Transparenz hilft. Wer Fortschritte sichtbar macht, erzeugt sozialen Druck und fördert Verbindlichkeit.
Das kann über einfache Mittel geschehen:
Task Boards
Fortschrittsberichte
Review-Runden mit Fokus auf Umsetzung
Verantwortung muss sichtbar sein.
5.7. Kulturelle Muster ansprechen
Letztlich müssen auch tiefere Muster thematisiert werden:
Was wird bei uns belohnt – Aktion oder Absicherung?
Woher kommt unser Zögern?
Wie gehen wir mit Fehlern um?
Diese kulturellen Codes entscheiden darüber, ob eine Organisation sich bewegt – oder im Kreis dreht.
6. Der Mythos der Trägheit
Oft wird gesagt: „Unsere Organisation ist halt träge.“ Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Menschen sind nicht grundsätzlich träge – sie verhalten sich so, wie es ihnen das System ermöglicht oder abverlangt.
Deshalb ist Trägheit kein Naturgesetz, sondern ein Ergebnis von Strukturen, Führungsverhalten und Kultur.
Wer die Trägheit beklagt, aber nichts an diesen Faktoren ändert, zementiert sie.
7. Fazit: Klarheit + Konsequenz = Bewegung
Es ist gut, wenn in einer Organisation Klarheit über Probleme und notwendige Aufgaben herrscht. Doch das allein reicht nicht. Erst wenn Klarheit auf Konsequenz trifft, entsteht Bewegung.
Organisationen müssen lernen, von der Diagnose zur Therapie zu kommen. Von der Analyse zur Aktion. Vom Erkennen zum Entscheiden. Und vom Entscheiden zum Tun.
Der Weg dahin ist nicht leicht – aber er beginnt mit einem einfachen Satz:
„Wir wissen, was zu tun ist – und dieses Mal machen wir es auch.“
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