Wenn Nachfolge zur Zerreißprobe wird: Warum unterschiedliche Erwartungen den Prozess so komplex machen
- Wolfgang Steigenberger
- 3. Juni
- 5 Min. Lesezeit
„Nachfolge? Kein Problem – wir haben ja einen Plan.“ So oder so ähnlich beginnt der Gedankengang in vielen Unternehmen, wenn ein Führungswechsel bevorsteht. Doch hinter dem scheinbar einfachen Wechsel von einer Person zur nächsten verbirgt sich einer der komplexesten und emotionalsten, gleichzeitig bedeutsamsten Prozesse innerhalb einer Organisation. Die Herausforderung: Vier Perspektiven – vier Gruppen unterschiedlicher Erwartungen – ein System. Und alle wollen etwas anderes...

Die vier Perspektiven der Nachfolge
Wenn eine Führungsposition neu besetzt wird – sei es durch einen geplanten Übergang, eine interne Beförderung oder im Rahmen einer Unternehmensnachfolge –, begegnen sich vier zentrale Anspruchsgruppen:
1. Die übergebende Person – das Erbe sichern
Für die scheidende Führungsperson steht meist das eigene Lebenswerk oder zumindest ein bedeutender Karriereabschnitt auf dem Spiel. Häufig verbindet sich mit der Nachfolge der Wunsch, das bisherige Wirken nicht entwertet zu sehen.
Leitsatz: „Es soll alles so bleiben, wie es ist.“
Diese Perspektive ist verständlich. Sie resultiert oft aus Stolz, Verantwortungsbewusstsein – aber auch aus Verlustangst. Wer viel aufgebaut hat, möchte nicht erleben, wie alles in wenigen Monaten „auf links gedreht“ wird. Die Gefahr: Diese Haltung kann unbewusst Veränderung blockieren, neue Ideen bremsen oder die Nachfolge verzögern. Ein sich in den Ruhestand verabschiedender Geschäftsführer sagte zu mir: "Jetzt habe ich für meinen Nachfolger alles perfekt aufgestellt und was macht er - er zerstört alles innerhalb weniger Wochen. Dabei wollte ich etwas hinterlassen".
2. Die nachfolgende Person – gestalten statt verwalten
Die neue Führungsperson hat häufig den Anspruch, eigene Akzente zu setzen. Wer Verantwortung übernimmt, möchte nicht bloß Bewahrer sein, sondern als Persönlichkeit wirken. Die Motivation ist hoch – der Wunsch nach Veränderung und die Ungeduld sich beweisen zu wollen meist ebenso.
Leitsatz: „Jetzt wird alles neu und besser.“
Doch genau hier liegt die Spannung. Denn was für die Nachfolgeperson ein Signal der Erneuerung ist, kann von anderen als Abwertung der Vergangenheit empfunden werden. Schnell entstehen Missverständnisse, Loyalitätskonflikte und stille Widerstände – besonders, wenn der Vorgänger oder die Vorgängerin noch präsent ist. Gerade in Übergabephasen können Konflikte für die Mitarbeitenden sicht- und spürbar, der Start der Nachfolgenden massiv erschwert werden.
3. Das Management – Stabilität und Kontinuität
In vielen Fällen wird Nachfolge nicht nur aus individueller, sondern auch aus strategischer Perspektive betrachtet. Das Management – sei es der Vorstand, die Geschäftsführung oder HR – verfolgt dabei vor allem ein Ziel: "progressive" Stabilität.
Leitsatz: „Bitte keine großen Wellen.“
Aus Sicht der Organisation soll der Übergang reibungslos verlaufen. Der Betrieb darf nicht gestört, Kunden- und Lieferantenbeziehungen nicht gefährdet, Teams nicht verunsichert werden. Die neue Führungsperson soll also schnell wirken – aber bitte unauffällig. Diese Spannung führt häufig zu einem Dilemma zwischen Veränderungswillen und Erwartungsmanagement. Hier spielen Management, Geschäftsführung oder Aufsichtsorgane eine zentrale Rolle: In den ersten Wochen und Monaten muss dem Übergang Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet werden. Ein guter Start ist fast schon ein Garant für gelingende Nachfolge. In einem Dienstleistungsunternehmen habe ich beobachtet, dass eine zu lange Übergabephase gepaart mit mangelnder Klärung von Erwartungen und Kompetenzen von Vorgänger und Nachfolger sowie mangelnde Aufsicht durch das Aufsichtsorgan zu großen Konflikten führten, was wiederum den Exit einiger Schlüsselmitarbeiter zur Folge hatte.
4. Die Mitarbeitenden – zwischen Hoffnung und Skepsis
Die vierte Perspektive kommt oft zu kurz, ist aber vielleicht die wichtigste: Die der Mitarbeitenden. Sie sind diejenigen, die die Auswirkungen des Führungswechsels unmittelbar spüren – kulturell, emotional, organisatorisch.
Leitsatz: „Hoffentlich wird jetzt endlich alles besser.“
Mitarbeitende projizieren oft Erwartungen, Hoffnungen – manchmal auch Ängste – auf die neue Führungsperson. Gerade wenn die Vorgängerperson als schwierig erlebt wurde oder wichtige Themen lange unbearbeitet blieben, entsteht ein Raum der stillen Erwartungen: mehr Wertschätzung, bessere Kommunikation, faire Entscheidungen. In einem Großhandelsunternehmen wollte der Nachfolger von seinem ersten Tag im Unternehmen an zeigen, dass nun er an der Macht sei und ließ das auch sein neues Team spüren, das ihn zu Beginn herzlich und mit großen Erwartungen begrüßt hatte. Nach wenigen Tagen regte sich massiver Widerstand und schon nach einem Monat musste er das Unternehmen wieder verlassen.
Zwischen den Stühlen: Die neue Führungsperson
Wer in eine bestehende Struktur „nachfolgt“, findet sich schnell zwischen den Fronten wieder:
Die übergebende Person steht beratend zur Seite , oder kontrollierend im Nacken, oder frustriert in einer Ecke.
Das Management erwartet schnelle Erfolge ohne Aufsehen.
Die Mitarbeitenden testen, ob der neue Stil zu Vertrauen oder Frustration führt und ob Versprechungen sowie geweckte Erwartungen erfüllt werden.
Diese Gemengelage ist hochsensibel. Wenn die neue Führungsperson versucht, zu schnell zu verändern, kann das als übergriffig gelten. Zögert sie zu lange, wird sie als zögerlich oder profillos wahrgenommen. Die Kunst besteht darin, Gleichgewicht zu finden zwischen Respekt, Klarheit und Mut. Dafür ist sehr viel Kommunikation, Klärung von Erwartungen und Zielen wichtig.
Die emotionale Seite der Nachfolge
So rational der Prozess geplant wird – die Realität ist hoch emotional:
Verlustangst bei der übergebenden Person
Unsicherheit bei Mitarbeitenden
Erwartungsdruck auf die Nachfolgeperson
Versagensängste bei der Nachfolgeperson
Kontrollbedürfnis im Management
Diese Emotionen sind nicht das Problem – sondern das Verleugnen derselben. In vielen Organisationen fehlt es an einer offenen Auseinandersetzung mit den emotionalen Dynamiken, die in Nachfolgeprozessen wirken.
Die sechs häufigsten Spannungsfelder
1. Tempo vs. Timing: Wie schnell darf oder soll die neue Führungskraft Veränderungen umsetzen?
2. Kontinuität vs. Innovation: Wie viel vom „Alten“ ist tragfähig – und was muss hinterfragt werden?
3. Macht vs. Vertrauen: Wie wird Autorität aufgebaut, ohne bestehende Beziehungen zu stören?
4. Sichtbarkeit vs. Zurückhaltung: Wie präsent darf die neue Führungskraft sein – und ab wann wirkt es zu dominant?
5. Loyalität vs. Neuausrichtung: Wie geht man mit Vertrauten des Vorgängers um, wenn neue Teams nötig sind?
6. Emotion vs. Organisation: Wie offen darf über Unsicherheiten, Trauer oder Enttäuschung gesprochen werden?
Was erfolgreiche Nachfolgeprozesse ausmacht
Die gute Nachricht: Es gibt Wege, wie Nachfolgeprozesse nicht nur reibungslos, sondern auch konstruktiv und kraftvoll verlaufen können. Entscheidend sind vier zentrale Elemente:
Offene Kommunikation
Ein gelungener Übergang braucht Transparenz, Dialog und Wertschätzung. Die Erwartungen aller Beteiligten sollten benannt und abgeglichen werden. Besonders wichtig ist dabei die Kommunikation zwischen übergebender und nachfolgender Person. Was bleibt, was darf gehen, was ist unverhandelbar?
Tipp: Ein moderiertes Übergabegespräch kann Wunder wirken – ehrlich, strukturiert, wertschätzend.
2. Klare Rollen – klare Zeiträume
Wenn der/die Vorgänger:in noch im Unternehmen bleibt (z. B. als Berater:in oder in einer Übergabephase), müssen klare Rollen und Zeiträume definiert sein. Nichts ist für die Nachfolgeperson schwieriger als ein Schatten, der nicht weicht.
Tipp: Eine definierte Übergabephase mit klarer „Abflugrampe“ schafft Struktur. Achten Sie darauf, dass diese Phase nicht zu lange dauert und die Kompetenzen für Nachfolger und Vorgänger klar sind - wer trifft bis/ab wann Entscheidungen?
3. Symbolische Gesten des Übergangs
Nachfolge ist mehr als eine E-Mail. Der Moment des Übergangs sollte bewusst gestaltet werden: mit einer Begrüßung, einer Rede, einem Ritual, das Wertschätzung für die Vergangenheit ausdrückt und Raum für Zukunft eröffnet. Die Mitarbeitenden achten in der Regel sehr genau auf Details und Untertöne.
Tipp: Veranstaltungen oder Teamformate können helfen, die emotionale Dimension sichtbar zu machen und Vertrauen zu schaffen.
4. Coaching und Begleitung
Gerade in komplexen Organisationen ist es sinnvoll, die nachfolgende Führungskraft professionell begleiten zu lassen – durch Coaching, Mentoring oder Peerformate. Das schafft Reflexionsräume, entlastet und fördert persönliche Entwicklung. Auch bei der ausscheidenden Person (wenn sich diese in den Ruhestand begibt), die sich nun auch in einer neue Rolle einfinden muss!
Tipp: Auch ein gemeinsames Coaching mit der übergebenden Person kann sinnvoll sein.
Fazit: Nachfolge ist kein Verwaltungsakt – sondern ein Kulturprozess
Wer Nachfolge nur als organisatorischen Vorgang versteht, unterschätzt die Kraft von Emotionen, Beziehungen und kulturellen Erwartungen. Nur wenn es gelingt, alle Perspektiven wertzuschätzen und zu integrieren, kann der Übergang zu einem echten Aufbruch werden.
Und vielleicht liegt genau darin die Chance: Aufmerksamkeit schenken, Vergangenheit würdigen, Gegenwart gestalten, Zukunft ermöglichen.
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